1899 hielt Rachel Goitein in der Sporthalle des Fichte-Gymnasiums als erste Abiturientin die nachfolgende Rede. 2018 hielt Anna Martiny im Rahmen des Festaktes 125 Jahre erstes deutsches Mädchengymnasium die Rede noch einmal:
Mir ist die Ehre zu Teil geworden, bevor wir auf immer aus diesen uns so lieb gewordenen Räumen scheiden, von hier aus einige Worte des Abschiedes sprechen zu dürfen. Ein bedeutungsvoller Moment ist dies; nicht nur für meine Colleginnen und für mich, die wir die Schule verlassen, nein, ich glaube, diesen Augenblick nicht zu überschätzen, wenn ich sage, er ist auch bedeutungsvoll für diese ganze Anstalt, für viel weitere Kreise noch, bedeutungsvoll für ganz Deutschland. Ist es doch das erste Mal, daß Schülerinnen eines regelrechten Gymnasiums in unserem Vaterland das Abiturium machen durften, daß Abiturientinnen hinauszogen aus der Schule, um zu weiterem Studium auf die Hochschule zu gehen. Ja, etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes ist es. Und im Hinblick darauf habe ich auch diesen meinen Abschiedsworten ein Wort zu Grunde gelegt, das wohl auf den ersten Blick manchem sonderbar erscheinen mag. Ich habe das Wort gewählt, das einst Lessing seinem Nathan vorausgeschickt, als er ihn in die Öffentlichkeit sandte. Seinen Nathan, in dem er einen neuen herrlichen Gedanken predigte, den Gedanken der Duldsamkeit, der allgemeinen Menschenlieben. Ja, dieser Gedanke war neu, nur wenige edle Menschen hatten ihn in sich getragen, weniger Auserlesene hatten ihn verstanden, die große Mehrzahl aber hatte ihn noch nie begriffen. Und Lessing wußte, sie hat ihn nicht nur nicht begriffen, sie wird ihn auch nicht begreifen wollen. Sie werden, weil sie es nicht verstehen, Gefahr darin wittern und diesen hohen Gedanken schmähen. Darum schrieb Lessing an die Spitze dieses Werkes: Introite, nam et hic dii sunt, tretet ein, auch hier sind die Götter. Wieder ist ein großer Gedanke im Werden, ein neues Leben will aufblühen. Ja, einzelne haben es längst gefühlt, bedeutende Menschen helfen mit Einsetzung ihrer ganzen Persönlichkeit daran zu arbeiten – die große Mehrzahl aber verlacht’s und belächelt’s höhnisch, der Gedanke, daß Gymnasien, Universitäten auch den Freuen offenstehen sollen. Drum rufe ich Euch zu: „Folgt mir, ich will Euch führen, tretet ein, und ich will Euch zeigen, auch hier sind Götter.“
Ich will hier nicht über Frauenbildung, Frauenstudium, über die Frauenfrage im allgemeinen sprechen, dazu fühle ich mich weder berufen noch befähigt, auch wäre dies wohl nicht der rechte Platz dafür. Nein, ein Bekenntnis will ich hier ablegen in meinem und meiner Freundinnen Namen, warum wir diesen Weg gehen, warum wir unsere Befriedigung auf diesem Wege zu finden hoffen. Etwa weil wir emancipiert sein wollen? Etwas anderes sein wollen als unsere Mitschwestern? Nein. Wir wollen nicht emancipiert sein im schlechten häufig gebrauchten Sinn dieses Wortes. Wir wollen nicht – das Schreckbild der Emancipation – unser Haar kurz scheren und Zigarren rauchen, wir wollen nicht unsere weibliche Natur unser Wesen aufgeben, um die Männer nachzuahmen, in der Meinung, daß wir dadurch etwas Besseres, Höheres werde. Nein, wir bleiben in unserem Wesen unverändert, wir fühlen uns nach wie vor eins mit unseren Schwestern, denn wir wollen gar nichts anderes sein als sie alle. – Warum habt ihr dann diese Laufbahn betreten? so höre ich fragen. Ich habe ja gesagt, ich werde ein Bekenntnis ablegen, und das will ich auch thun.
Vor allem war es die Lust am Lernen, am Wissen, die uns diesen Weg gewiesen. Wir wollten nicht nur lernen, um von vielen Dingen eine Ahnung zu haben, um bei allem mitreden zu können, wir wollten lernen, wie man lernt, wie man durch das Wissen selbstständig wird und innerlich frei; damit wir uns eigene Ansichten, eigene Gedanken bilden könnten; damit wir befähigt werden von dieser Grundlage des Gelernten aus uns selbst weiter vorwärts zu bringen. Wer kann heute noch glauben, daß das Streben nach Wissen Sünde, daß Bildung Verderben ist, wenn wir glaubten, dies da finden zu können, wo auch die Knaben den Grund legen zu ihrem ferneren Studienstreben, in dem Gymnasium. Ja, ich weiß es, keine von uns, die wir jetzt das Gymnasium verlassen, hat es je bereut, den Weg des Wissens betreten zu haben, und wenn es uns auch oft schwer fiel und wenn die Arbeit viel wurde, ja selbst wenn wir ein oder das andere Mal über allzuviel geseufzt, immer sind wir doch mit innerer Freudigkeit ans Werk gegangen, und diese Freudigkeit hat uns für alle Mühe belohnt.
Der 2. und stärkere Grund aber war der Gedanke: Wir wollen einen Beruf haben, wir wollen einen Platz im Leben ausfüllen. Nicht daß wir damit behaupten wollen, andere Frauen haben keinen Beruf, haben keine genügende Stelle auszufüllen! Aber können wir wissen, wohin das Schicksal uns führt? Kann nicht eine Zeit kommen, wo das Geschick uns auf uns selbst anweist und auf einen Posten stellt und uns zuruft: steht fest! Wie sollen wir dann stehen können, wenn wir das Stehen nie gelernt?
Wir müßten fallen, zu eigner und andrer Last leben. Das wollen wir nicht; dagegen wollen wir gewappnet sein! Ja, es giebt noch andere Wege, das zu erreichen; es ist wahr. Aber wer kann es uns verargen, wenn wir denn stehen lernen müssen, daß wir da stehen wollen, wo wir es am besten für uns halten; daß wir den Posten suchen, wo wir glauben, etwas leisten zu können. Darum haben wir diesen Weg gewählt, darum streben wir, auf diesem Wege mutig vorwärts zu schreiten.
Auch noch ein dritter Gedanke hat uns diesen Weg vorgezeichnet, wenigstens denen unter uns, die sich, wie heute die meisten studierenden Frauen, dem medizinischen Studium zuwenden wollen. Der Gedanke, den Armen und Kranken, den Leidenden und Schmerzbeladenen zu helfen, ihre Schmerzen zu lindern, ihre Leiden zu beheben! Und das ist doch ein Wunsch, den jede Frau nachfühlen und verstehen muß. Vielleicht höre ich hierauf die Erwiderung: Ja, das ist alles schön und gut, besser und schöner, als wir gedacht, aber was sollen wir einem Gedanken nähertreten, der unausführbar, der unmöglich ist! Doch dieser Gedanke ist keine Utopie, ist kein leerer Traum nur, längst haben ihn bedeutende Frauen schon zu herrlichen Wirklichkeiten gemacht. Ich will hier nicht viele Namen nennen, die als bloße Namensaufzeichnung doch wertlos wäre. Nein, einen Namen will ich nennen, der allgemein bekannt, den ich allen meinen Gefährten (?) (Text unleserlich), ich meine Sonja Kowalewska(ja), die erste Frau, die in unserem Jahrhundert einen Lehrstuhl an einer Universität inne hatte. Sie war nämlich Professor der Mathematik zu Stockholm. Sie stammte aus einer altrussischen Adelsfamilie und wurde noch in jenen alten Vorurteilen erzogen, daß für ein Mädchen zu viel Gelehrsamkeit Gefahr bringe. Sie war auch immer ein stilles eigentümliches Kind, so daß wohl weder ihre Eltern noch sie selbst es ahnte, was aus ihr werden sollte. Da kam für Rußland jene Zeit, in der ein neuer Geist die Jugend, männliche und weibliche, erfülltem als Bildung das Losungswort wurde. Und auch Sonja wurde von dieser Strömung ergriffen; es war ihr plötzlich klar geworden, wohin ihr Wesen neigte, was ihr bis jetzt gefehlt, sie so still und verschlossen gemacht hatte. Sonja Kowalewska(ja) wollte studieren, wie so viele ihrer jungen Gefährten und Gefährtinnen. Doch nie hätte ihre Eltern, die schroff und fremd diesen Bewegungen gegenüberstanden, es zugelassen, daß ihr junges Töchterchen hinauszöge auf eine Hochschule. Da griff Sonja zu einem Mittel, das damals viele junge Russen und Russinnen, voll von den neuen Idealen, ergriffen, um den Mädchen die Gelegenheit zu geben, hinauszukommen nach Deutschland, um ihren Studien zu leben. Sie ging eine Scheinehe ein; nun konnten die Eltern nichts mehr dagegen haben, zog sie doch an der Seite ihres Mannes zu einem neuen Leben hinaus nach Heidelberg. Die größte Schwierigkeiten waren so überwunden; doch noch immer war der Weg, den sie betreten, dornig genug. Denn nicht leicht wurden ihr die Universitäten geöffnet, ließen die Professoren sie zu ihren Vorlesungen. Nur ihrer ganz außerordentlichen Energie gelang es, vorwärts zu dringen, und vor allem ihre großen geistigen Fähigkeiten waren es, die ihr den Eingang bei den bedeutendsten Professoren verschafften, so daß besonders Weierstraß in Berlin sich für sie interessierte, daß sie bei ihm arbeiten durfte, bei ihm sich zum Doktor-Examen vorbereitete, das sie in Göttingen ablegte. Durch die Examensarbeit und durch weitere Schriften hatte Sonja Kowalewska(ja) sich einen bedeutenden Namen verschafft, so daß es Stockholm wohl wagen konnte, diesen neuen Schritt zu unternehmen, Sonja Kowalewska(ja) als Professor nach Stockholm zu berufen, wo sie in ihrem Amte bis zu ihrem Tode im Jahre 1891 wirkte.
Nur in ganz kurzen Umrissen habe ich das Leben dieser bedeutenden Frau zeichnen können; denn auf ihr Privatleben, auf ihr Gefühlsleben einzugehen, wie lohnend dies auch wäre, dazu reicht hier die Zeit nicht. Ich wollte hier auch in erster Linie zeigen, daß das Studium für eine Frau keine Unmöglichkeit ist, sondern daß sie auf diesem gebiete auch Großes zu erreichen vermag. Natürlich wissen wir alle, daß eine von uns eine zweite Sonja Kow(alewskaja) wird. Aber ein bedeutendes Vorbild kann sie uns werden zum mutigen Vorwärtsstreben, eine Stütze wird uns der Gedanke an sie, die vor keiner Schwierigkeit zurückgeschreckt, und wenn immer Stunden der Entmutigung über uns kommen, dann können wir auf sie schauen, die es so viel, viel schwerer gehabt, die doch das goldne Ziel erreichte, und neuer Mut wird in uns einziehen, auf unserem Weg, der schon um so vieles leichter ist, weiter zu dringen. Ja, viel leichter ist unser Weg; hilfreich hat man uns schon die Bahnen zu ebnen gesucht, man hat uns Mittel und Wege in die Hand gegeben, auf weniger steilen Pfaden emporzuklimmen. Tief empfinden wir dies, und gerade heute fühlen wir’s mit doppelter Gewalt, heute, wo wir von hier scheiden, wie viel an uns gethan worden, wie ewig dankbar wir allen denen sein müssen, die mitgeholfen durch Wort und That; ihnen allen, (auch) den Gründerinnen dieses Gymnasiums, allen im Namen aller innigsten Dank.
Und ganz besonders will ich noch Ihnen, meinen verehrten Lehrern, unseren Dank aussprechen. Sie haben uns zu diesem Ziele geführt, ihnen haben wir es in erster Linie zu danken, daß wir heute als Abiturientinnen die Schule verlassen können. Ja, wir wissen wohl, ihr Amt war schwierig. Während all dieser Jahre hindurch, als so oft die Schule zusammenzustürzen drohte, Sie sind nicht gewichen. Vielleicht ist es Ihnen doch eine kleine Belohnung für alle Ihre Mühe, wenn ich Ihnen versichere, daß wir alle voll und ganz empfinden, was Sie für uns gethan, und daß unsere Dankbarkeit für Sie, auch für die Professoren, die leider im letzten Jahre nicht mehr bei uns wirkten, nie schwinden wird. Und nun noch ein kurzes Wort zu Euch, meine lieben Mitschülerinnen! Ich meine nicht nur meine direkten Klassengenossinnen, nein, ich meine Euch alle, die Ihr nach dem gleichen Ziele strebt, die ihr das Gymnasium besucht. Denn ich weiß, auch für Euch ist dies ein Abschied, ein schmerzlicher Abschied sicherlich, nach dem schönen kollegialischen Verhältnis, das bis jetzt und hoffentlich auch späterhin in diesen Hallen herrscht. Nehmt es freundlich auf, wenn Eure abgehende Mitschülerin noch außer einem herzlichen Lebewohl Euch zuruft: Strebt mutig vorwärts! Denkt daran, an welch großem Werke Ihr arbeitet, daß viele Tausende auf Euch schauen, von Euch die Antwort auf eine schwere Frage erwarten. Ob Ihr alle das Ziel, das Ihr euch setzt (unleserlich), erreicht, ob das Schicksal Euch an (einen) anderen Platz im Leben stellt, darin wollen wir alle gleich sein; wir wollen uns an jeder Stelle bestreben, ein ganzer Mensch zu sein, so daß jeder, der auf uns sieht, sagen soll: ja, wahrlich, etwas Schlechtes kann es nicht sein, laßt auch uns dem neuen Gedanken näher treten, denn siehe, auch hier sind Götter.