Für die Titelgeschichte der Wirtschaftswoche "Ein Plädoyer für das Programmieren als Schulfach" vom 06.01.2017 wurde der ITG-Unterricht der Klasse 7c des Lessing-Gymnasiums besucht. Im Folgenden finden Sie einen lizenzierten Auszug aus dem Artikel. 

WirtschaftsWoche NR. 1/2 vom 06.01.2017 von Maximilian Nowroth und Max Haerder
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SCHULE  Programmiert auf Erfolg

Wer Software nicht versteht, versteht bald die Welt nicht mehr. Wir brauchen deshalb einen Unterricht, der unserem Nachwuchs hilft, die digitale Gesellschaft von morgen zu prägen. Plädoyer für eine Bildungsoffensive, die unseren Wohlstand sichert.

Die Zukunft steckt in einer gräulichen Plastikkiste. Sie ist 58 Zentimeter groß, fünf Kilo leicht, und noch schläft sie. Es ist kurz nach 13 Uhr an diesem Wintertag, gleich beginnt die siebte Stunde im Lessing-Gymnasium in Karlsruhe.  Klasse 7c, Informationstechnische Grundlagen. Studiendirektor Daniel Roth, ein Mann mit grauem Haar und Smartwatch am Handgelenk, betritt den Computerraum und entnimmt der grauen Kiste einen kleinen Roboter, einen neuen Kollegen. Roth sagt: "Die Schüler sehen ihn heute zum ersten Mal. Das wird bei einigen Spuren hinterlassen." In der Tat: Das wird er.

Die ersten Schüler strömen in die Klasse. "Geil", ruft ein Schlaks mit Brille, "was ist das denn?" Ein Mädchen mit Strickjacke reckt ihren Hals. "Der ist ja voll süß!" Die Siebtklässler wissen noch nicht, dass das süße, geile Ding da vor ihnen die neueste Entwicklung der japanischen Technologiefirma Softbank Robotics ist. Dann schaltet Roth den Strom ein und erweckt die Maschine zum Leben. Die Plastikglieder recken und strecken sich. Die Knopfaugen blinken grün. Das blaue Köpfchen blickt neugierig durch die Klasse. Der neue Kollege ist jetzt wach.

"Hallo. Mein Name ist Nao. Heute würde ich gerne mit euch programmieren.  Darf ich das?" Die Schüler jubeln, lachen, winken ihrem neuen Gefährten zu.  Und Roths Blick sagt nur: Diese Stunde wird ein Selbstläufer.

Technik, wird er später sagen, habe eine starke Anziehungskraft auf Kinder, sie steigere ihre Motivation ungemein. Plötzlich seien die Schüler bereit, auch knifflige Probleme selbstständig und kreativ zu lösen. Vorbildlicher Informatikunterricht eben - der aber leider kaum irgendwo hierzulande so stattfindet wie in Karlsruhe.

Leider? Muss Programmieren als Schulfach wirklich sein? In der deutschen Bildungsrepublik herrscht schließlich kein Mangel an Reformen, sondern eher deren Überfluss. Nach dem Pisa-Schock haben die Kultusministerien landauf, landab die Lehrpläne umgekrempelt, Schulformen geschleift und, noch vor zehn Jahren undenkbar, sogar bundesweite Abiturprüfungen in Kernfächern eingeführt.  Als wäre das nicht genug, hat G8, das achtlos eingeführte achtjährige Gymnasium, Schüler, Lehrer und Eltern dem Dauerstress der Verdichtung und Verknappung überlassen. Deshalb: Informatik für alle? Neuland als Schulfach? Haben wir denn keine wichtigeren Bildungsprobleme zu lösen?

Haben wir nicht. Wir stehen an einer Zeitenwende. Und die Schulen, die Lehrer und Politiker müssen diesen epochalen Wandel schnellstmöglich begreifen.

Natürlich, die Argumente der Skeptiker und Bewahrer liegen auf der Hand: Wir verlassen uns längst unablässig auf Technologien und Systeme, deren Innereien Normalbürger nicht mehr nachvollziehen können. Wir fahren Auto, ohne Kfz-Mechaniker zu sein, wir kaufen Brot, weil wir das Backen verlernt haben.  Unser Alltag ist Leben auf Basis unverstandener Technik - oder es ist keins.  Warum also sollten wir die DNA der digitalen Welt verstehen, ihre Codes zu entziffern lernen - ihn vielleicht gar selber programmieren können?

Erstens, weil wir sonst bleiben, was wir sind: manipulierbare Digital-Analphabeten. Weil wir die Segnungen des digitalen Zeitalters ebenso leidenschaftlich wie naiv nutzen würden, ohne zu merken, wie sie uns benutzen.  Wer keinen Begriff hat von dem Zusammenspiel von persönlichen Daten und Datenspuren, kein Gespür für die Gefahren der digitalen Entblößung, überhaupt keine Ahnung von Macht- und Steuerungsstrukturen im Netz, bei Hard- wie Software, der setzt das Wichtigste aufs Spiel: seine Autonomie und Identität, seine Freiheit, ja - seine Würde. Das Herz der Zukunft schlägt im Algorithmus.

Und zweitens: Deutschland bildet sich viel darauf ein, das Land der Ingenieure, der Erfinder und Tüftler zu sein. Im Zeitalter der vernetzten Gesellschaft beherrschen wir zwar die materielle Produktion der Dinge - aber die Asiaten und die Amerikaner das immaterielle Internet. Deutschland ist das Königreich des Analogen und, Ausnahmen bestätigen die Regel, ein digitaler Zwergstaat. Das ist ein Problem, denn genau dort wird in Zukunft die Kontrolle liegen und darüber hinaus das meiste Geld verdient.

/// DIE KALIFORNISCHE ÜBERMACHT // .

Die fünf wertvollsten Konzerne der Welt sind allesamt amerikanische Technologieunternehmen, die mit ihren Algorithmen die Welt erobert haben.  Selbst Spitzenreiter Apple, bekannt für iPhones und iPads, wäre ohne sein Softwareökosystem niemals so erfolgreich geworden. Der Börsenwert des kalifornischen Konzerns ist höher als jener der sieben größten deutschen Dax-Unternehmen zusammen. Die deutsche Bildungspolitik kann darüber die Achseln zucken. Oder die Herausforderung annehmen.

Der Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt schrieb im Jahr 1809: "Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist." Es braucht deshalb für das digitale Zeitalter gar keinen neuen Bildungsbegriff. Wir müssten Humboldt nur zeitgemäß interpretieren. Informatik für alle in den Schulen ist dann kein platter Imperativ der ökonomischen Verwertbarkeit, sondern ein Aufbegehren gegen unsere selbst verschuldete digitale Unmündigkeit.

Zurück in die 7c, nach Karlsruhe. "Der Roboter macht genau das, was ihr ihm beibringt", erklärt Lehrer Daniel Roth. Seine Schüler sollen Nao jetzt so programmieren, dass er sprechen und gehen kann. Die fünf Mädchen und sieben Jungs in der Klasse öffnen auf ihren PCs eine englischsprachige Software und schalten Befehle hintereinander, denen der Roboter gehorchen soll. Sprache einstellen, Satz eintippen, Bewegungsreihenfolge festlegen. "move (); turnLeft (); move ()". Nichts anderes als ein einfacher Algorithmus.

Der 13-jährige Julius lässt den Roboter sprechen: "Ich heiße Thorsten und esse gerne Currywurst und Burger!" Seine Mitschüler lachen, doch Julius meint es wirklich ernst mit dem Programmieren. Informatik sei cool, sagt er, "weil wir viel Freiheit haben und sofort anfangen können, Probleme zu lösen". Genau damit will er auch später sein Geld verdienen, da ist er sich sicher. Sein Traumberuf? Hacker. "Aber einer von den guten", sagt Julius. "Solche, die Unternehmen zeigen, wo deren Lücken im System sind." Das sind wohl die Spuren, die sich Roth von seinem Unterricht verspricht.

Sucht man in der Bundesrepublik nach weiteren, findet man allerdings nur Spurenelemente. Die WirtschaftsWoche hat alle 16 Kultusministerien abgefragt, um einen Überblick über den Stand der Informatikausbildung in den Schulen zu gewinnen. 

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